Helena Tulve
Die aus Estland stammende Helena Tulve gilt als eine der avanciertesten zeitgenössischen Komponistinnen Osteuropas und wird international mit ihren Werken aufgeführt. Im Zentrum ihrer Musik steht der unaufhörliche Wandel und die damit verbundenen Prozesse in Zeit und Raum. Ihre Musik wurzelt in elementaren Impulsen, die von natürlichen Mustern, Organik und universeller Lebensenergie beeinflusst werden, die Komplexität und Widersprüche sowie unterschiedliche Zustände, Formen und Bewegungen einschließen. Die Zentralität des Klangs in Tulves Musik bedeutet nicht nur die Klangfarbe, sondern umfasst gleichzeitig Melodie, Intonationsspannung, Harmonie und Mikrointervalle, energetische Transformationen.
Helena Tulve studierte Komposition an der Estnischen Musikakademie bei Erkki-Sven Tüür, dessen einzige Kompositionsschülerin sie bis heute ist. Sie vertiefte ihre Ausbildung in Paris bei Jacques Charpentier am Conservatoire National Supérieur (CNR), die sie 1994 abschloss. Außerdem studierte sie Gregorianischen Gesang und traditionelle Musik am CNSMD de Paris. Tulve besuchte Sommerkurse von György Ligeti und Marco Stroppa sowie einen Kurs für elektronische Musik am IRCAM.
Seit 2000 ist Helena Tulve Mitglied des Lehrkörpers für Komposition an der Estnischen Akademie für Musik und Theater (Professorin seit 2011, Vizerektorin von 2012 bis 2016) und seit 2015 ist sie künstlerische Leiterin der Estnischen Musiktage. In der Saison 2001/2002 war Tulve Composer in Residence des Estnischen Philharmonischen Kammerchors, dessen Auftragswerk It Is Getting So Dark 2004 im Stadttheater Tallinn uraufgeführt wurde. Tulve war Composer in Residence beim Pärnu Järvi International Summer Festival (2012), beim Estonian National Symphony Orchestra (2012/2013), beim Båstad Chamber Music Festival (2017) und bei den Rencontres Utopik in Nantes, Frankreich (2018). 2017 erhielt sie ein Stipendium bei Civitella Ranieri in Umbrien, Italien.
Tulve erhielt Kompositionsaufträge vom Estnischen Philharmonischen Kammerchor, Vox Clamantis, dem Niederländischen Kammerchor, dem Münchner Kammerorchester, dem Estnischen Nationalen Symphonieorchester, dem Uppsala Kammerorchester, dem Ensemble Aleph, Deutschlandradio, den Seattle Chamber Players, dem Nieuw Ensemble, dem Ensemble Insomnio, dem Tallinner Kammerorchester, dem Afekt Festival, dem Ensemble Adapter, dem Theatre of Voices, dem Bang on a Can und dem Ensemble TM+ ao.
Helena Tulves Kompositionen wurden in Europa, den USA, Kanada, Asien und Australien sowie bei zahlreichen Festivals aufgeführt, darunter das NYYD Festival, der Warschauer Herbst (2001, 2005), Gaida (Vilnius, 2001, 2010), Les Boréales (Caen, 2002), MaerzMusik (Berlin, 2003), Klangspuren (Schwaz, 2003), Forum neuer Musik Köln (2003, 2010), Icebreaker (Seattle, 2004), INMF Darmstadt (2004), Culturescapes (Basel, 2006), ISCM World Music Days (Stuttgart, 2006; Hong Kong, 2007; Mons, 2012), Davos Festival (2008), Vale of Glamorgan Festival in Wales (2008, 2010, 2013, 2015), Vancouver New Music (2009), Ojai Festival (2009), Gaudeamus Music Week (Amsterdam, 2010), Music in the Giant (Österreich, 2012), Usedom (Deutschland, 2013), Zilele Muzicii Noi (Moldawien, 2014), Metropolis New Music Festival (Australien, 2015), Spoleto Festival (USA, 2017), Dark Music Days (Island, 2014, 2017), Festivale Présences (2017), Båstad Chamber Music Festival (2017), Melos-Ethos International Festival of Contemporary Music (2015, 2017), Kissinger Sommer (2018), Festival Europäische Kirchenmusik (2018), Korsholm Music Festival (2018) und andere.
Helena Tulves Werke haben breite Anerkennung gefunden. Sula (Tauwetter) für Sinfonieorchester (2004) wurde beim International Rostrum of Composers ausgezeichnet. Das Ensemblewerk In a nakht fun yeridah und Südamaa für Klavier und Sinfonieorchester wurde mit dem Komponistenpreis der Estnischen Musiktage ausgezeichnet. Sie erhielt den Prinz-Pierre-von-Monaco-Musikkompositionspreis, den ISCM-CASH Young Composer Award, den Musikpreis des Estnischen Musikrates, den Ordre des Arts et des Lettres, den Orden des Weißen Sterns und den Orden für kulturelle Verdienste von Monaco. 2017 erhielt Tulve den Lepo Sumera Award für Komposition und 2019 den LHV New Music Award für ihr Stück für Cello und Kammerorchester In Uncharted Waters.
Die Komponistin hat auch mit Künstlern zusammengearbeitet und Filmmusik sowie Musik für Theateraufführungen und Tanz geschrieben. Ihre Werke wurden von der Edition Peters und dem Estonian Musical Fund veröffentlicht. Die Musik von Helena Tulve wurde für eine Reihe von Sammlungen aufgenommen, darunter die drei Alben Sula (Eesti Raadio, 2005), Lijnen (ECM, 2008) und Arboles lloran por lluvia (ECM, 2014).
Für das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin hat Helena Tulve mit Wölfe nun ihre erste abendfüllende Oper geschrieben, die im Rahmen der Schlossfestspiele 2022 Premiere feiern wird. Die Komposition wird von der Ernst von Siemens Musikstiftung gefördert.
„Eine der schönen Eigenschaften ihrer Musik ist, dass vieles davon so wirkt, als wäre es nicht komponiert, als wäre es einfach passiert, als würde das Instrument selbst spielen, anstatt gespielt zu werden, als würde die Musik von einem Windspiel ausgehen. In ihrer Musik drängen sich die Formen nicht in den Vordergrund. Ihre Strukturen sind wie Felsen oder Bäume: alles ist selbstverständlich, vieles ist knorrig, vieles ist schön, manches ist geheimnisvoll, anderes sonnenklar. Es beginnt, es entwickelt sich, und am Ende besitzt ihre Musik eine Beständigkeit – in der Erinnerung. Das ist eine Musik, die man in eine Landschaft einbauen könnte. Sie würde nicht nur hervortreten, sie würde in ihr aufgehen.“
Der Musikwissenschaftler Wolfgang Sandner über die Musik von Helena Tulve