Mehr Zeit hat man nicht.

Schauspieldirektorin Nina Steinhilber über die Spielzeit 2023/2024

Wieviel Zeit bleibt uns? Und wofür sie nutzen, die Zeit, wie sie sinnvoll füllen und wann sie mit Freude verschwenden? Was bedeutet es, keine Zeit zu verlieren? Was tun, damit Zufriedenheit eintritt, Erfüllung, sowas wie Glück? Wie leben? Welche Entscheidungen treffen? Zurück auf „Los“ und nochmal von vorne anfangen? Wer können wir sein in dieser unübersichtlichen Welt? Was ist jetzt wichtig? Was müssen wir tun, bevor es zu spät ist? Wann haben wir verspielt? Reicht ein Leben aus? Um alles zu verändern?

 

Die Protagonist:innen der kommenden Spielzeit im Schauspiel finden sich in völlig unterschiedlichen Extremsituationen wieder. Viel Zeit bleibt ihnen nicht, um radikale Entscheidungen zu treffen, sich zu versöhnen, dem Tod noch einmal von der Schippe zu springen, ihrem Schicksal zu entkommen, Vergebung zu finden, die Liebe, das Glück, persönliche Freiheit, einen Ausweg, um zu Held:innen zu werden, der Einsamkeit zu entfliehen, der Gewalt etwas entgegenzusetzen, oder – im Fall der Orestie – gar eine neue Weltordnung zu schaffen. Nachdem Agamemnon auf dem Weg nach Troja den Göttern die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert hat, nimmt Klytaimnestra Rache und tötet ihren Mann, den Vater ihrer Kinder. Ihr Sohn Orest, gezwungen diesen Mord wiederum zu rächen, tötet die eigene Mutter – und wäre folglich der nächste, der seine Schuld mit dem Leben büßen muss. Doch dann kommt im letzten Moment alles anders: Orest wird vor Gericht gestellt. Das alte Gesetz der Blutrache weicht der Demokratie. Ein Prinzip ist durchbrochen.

 

Radikal durchbricht auch die dänische Autorin Tove Ditlevsen in Gesichter ein etabliertes gesellschaftliches System des Denkens und Handelns, des Pathologisierens und Einordnens: Sie erklärt den Wahnsinn ihrer Heldin zur Möglichkeit, endlich die ersehnte Freiheit für sich zu finden – einen Anfang also, kein Ende.
In Thees Uhlmanns Bestseller Sophia, der Tod und ich rollt das vermeintliche Ende hingegen unerwartet schnell heran, und zwar in Gestalt des Todes höchstpersönlich, der plötzlich vor der Tür steht und Uhlmanns Ich also ganz unmittelbar mit der Frage nach der ihm verbleibenden Zeit konfrontiert. Drei Minuten maximal, so die Regel. Aber Uhlmanns Ich ist noch nicht so weit. Er hat noch Fragen – und er hat Sophia, die sehr genau weiß, was er in diesem Leben auf jeden Fall noch tun sollte. Der Tod muss warten.
Die Gewissheit, dass unsere Kindheit, diese Zeit, an die viele sich im Rückblick als nahezu sorglos und unbeschwert erinnern, nach ein paar Jahren vorbei ist, existiert wohl ebenso lange wie die Sehnsucht nach ewiger Kindheit und Jugend. Und keine Figur der Literatur verkörpert diese Sehnsucht wie er: Peter Pan. Der Junge, der nicht erwachsen werden will und sich trotzig weigert, den Lauf der Zeit zu akzeptieren. Peter nimmt uns mit nach Nimmerland, wo ein Krokodil die Uhr verschluckt hat. Die Zeit steht still. Ein Märchen.

 

Längst gealtert wiederum sind die beiden verschrobenen Komiker Al und Willie in der Broadway-Komödie Sonny Boys. Ihre große Zeit haben sie hinter sich, viele Engagements werden nicht mehr kommen, zerstritten sind sie außerdem. Doch dann sollen die beiden für eine Show ein letztes Mal gemeinsam auf die Bühne zurückkehren. Eine Tür geht auf … Es könnte die Tür zu einem Saloon sein. Möglicherweise befinden wir uns mitten in einem Film: Weite, Wüste, die Sonne brennt. Zwei stehen sich gegenüber, bereit für den Showdown der letzten Menschen. Also sprach Johnny Rogers ist ein wahrhaft fantastisches (Glücks-)Spiel über dem Abgrund.

 

Auf einen solchen Abgrund steuert auch die Gesellschaft im Berlin der ausklingenden 1920er Jahre zu, die eben noch beim Tanz im Cabaret alles um sich vergessen konnte. Sängerin Sally Bowles, Star des Kit Kat Klubs, kann sich ein Leben ohne Show und Bühnenzauber nicht vorstellen. Doch unter der glitzernden Oberfläche brodelt es beunruhigend. Die Zeiten ändern sich und sie verändern Berlin. Sally muss sich entscheiden, ob sie Showgirl bleibt, in einem immer brauner werdenden Deutschland, oder ihr Glück in Amerika sucht.

 

Im barocken Italien beschließt Gabriel, die Hoheit über die eigene Identität nicht anderen zu überlassen und kämpft sich in George Sands wieder entdecktem Drama für ein selbstbestimmtes Leben durch einen gefährlichen Strudel von Intrigen und Leidenschaften.
Lügen, Betrug, Misstrauen und Heuchelei bestimmen auch das Mit- bzw. Gegeneinander in PeterLichts Version der Molière-Komödie Tartuffe. Mit bösem Witz lässt er ein Wortgewitter über dieser Gesellschaft niedergehen, die, in ihrer ganzen Fehlerhaftigkeit entlarvt, womöglich nur noch mit Humor zu retten ist. Mal wieder kalt erwischt lauthals über uns selbst zu lachen, könnte jedenfalls ein Anfang sein.

 

„Geklärte Verhältnisse sind was anderes“, schreibt PeterLicht. Sie verändern sich ständig – und wir mit ihnen. Wie wird es morgen sein? Was will die Welt von uns und wir von ihr? Wir denken über sie nach, befragen sie, arbeiten uns an ihr ab, gelegentlich auch mit dem Humor der Verzweiflung angesichts der eigenen Ohnmacht. Unsere Auseinandersetzung im Theater mit der Welt wie wir sie kennen, fürchten oder uns wünschen, ist ein Spiel mit Widersprüchen und Brüchen, ein Bekenntnis zum Zweifel, zur offenen Frage, eine Ahnung, welche Gefahr in einfachen Antworten liegt. Wir versuchen zu fliegen, wir scheitern, wir versuchen es wieder. Solange wir da sind, sind wir auf der Suche. Und das ist gut so.

Premieren 2023/2024

Die Orestie
von Aischylos
Deutsch von Walter Jens
Premiere 29. September 2023, Großes Haus

 

Deutschsprachige Erstaufführung
Gesichter
von Tove Ditlevsen
Deutsch von Ursel Allenstein
Bühnenfassung von Alice Buddeberg
Premiere 6. Oktober 2023, M*Halle

 

Sophia, der Tod und ich
von Thees Uhlmann
in einer Bühnenfassung von Patrick Wengenroth
Premiere 17. November 2023, M*Halle

 

Familienstück
Peter Pan oder das Märchen vom Jungen, der nicht erwachsen werden wollte
von James Matthew Barrie
Deutsch von Erich Kästner
ab 5 Jahren
Premiere 22. November 2023, Großes Haus

 

Sonny Boys
Komödie von Neil Simon
Deutsch von Helge Seidel
Premiere 31. Dezember 2023, Großes Haus

 

Uraufführung
Chico Zitrone im Tal der Hoffnung
Ein Western von Milan Peschel & Ensemble
Premiere 16. Februar 2024, Großes Haus

 

Guten Morgen, du Schöne/ Sisters (AT)
Protokolle von Maxie Wander
Ein Theaterabend von Sascha Hawemann & Ensemble
Premiere 23. Februar 2024, M*Halle

 

Cabaret
Musical von Joe Masteroff, John Kander und Fred Ebb
Buch von Joe Masteroff
nach dem Stück Ich bin eine Kamera von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood
Musik von John Kander, Gesangstexte von Fred Ebb
Orchesterfassung von Chris Walker
Premiere 12. April 2024, Großes Haus

 

Gabriel
von George Sand
aus dem Französischen von Sébastien Jacobi
Premiere 19. April 2024, M*Halle

 

Schlossfestspiele Schwerin 2024
Tartuffe oder Das Schwein der Weisen
Komödie frei nach Molière von PeterLicht
Premiere 21. Juni 2024, Schlossinnenhof

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