„Ein Mädchen kann nicht Dichter werden“

Das Werk der dänischen Autorin Tove Ditlevsen gilt als eine der größten literarischen Wiederentdeckungen der letzten Jahre.

Schonungslos verarbeitete Tove Ditlevsen in ihren Romanen ihr Leben: Das entbehrungsreiche Aufwachsen im Kopenhagener Arbeitermilieu. Den frühen Wunsch Schriftstellerin zu werden – zu ihrer Zeit, als Frau, insbesondere ihrer Herkunft, ein nahezu undenkbarer Gedanke. Die vier gescheiterten Ehen. Die persönlichen Krisen, wie Schwangerschaftsabbrüche, Medikamentensucht, Psychose und Suizidgedanken. Dabei verwendete sie eine meisterhaft präzise Sprache. Dennoch galt sie lange als Autorin, die nicht in ihre Zeit passte. Heute ist sie als eine der großen Stimmen Dänemarks anerkannt und wird seit wenigen Jahren, und vor allem der prägnanten Übersetzung Ursel Allensteins wegen, in Deutschland als große literarische Wiederentdeckung gefeiert.

 

Im Alter von 22 Jahren veröffentlichte Tove Ditlevsen mit dem Gedichtband Mädchensinn ihr erstes Werk, wodurch sie Zutritt zu den literarischen Kreisen Dänemarks erhielt. Ein lang gehegter Wunsch, den sie jedoch gegen erhebliche Widerstände durchsetzen musste. Sie wuchs in proletarischen Verhältnissen auf, der Vater war Heizer und als solcher immer wieder arbeitslos: „Ein Mädchen kann nicht Dichter werden“, lässt Ditlevsen ihn im Roman sagen. Die Mutter, zu der sie ein unterkühltes, teils von Gewalt geprägtes, Verhältnis hatte, drängte sie vor allem dazu, möglichst schnell einen soliden Ehemann zu finden, einen Handwerker bestenfalls, der den Klassenaufstieg gewähren würde.

 

In dem Roman Straße der Kindheit, erschienen 1943, und später in Kindheit, dem ersten Teil der sogenannten Kopenhagen-Trilogie, beschreibt sie eindrucksvoll die Erwartungen, die in sie gesetzt, die familiären Konflikte, die dadurch ausgelöst wurden, und die innerlichen Widersprüche, gegen die sie ankämpfte. Das Spiel mit Worten, die sie „durchströmten“, der unbedingte Drang, zu schreiben, in einer Welt, in der dieser Wunsch keinen Platz zu haben schien, war für Ditlevsen „etwas Heimliches, Verbotenes; etwas, wofür man sich in eine Ecke zurückzieht und was man nur tut, wenn es niemand sieht.“

 

Aber Ditlevsen ging ihren Weg. In Jugend, dem zweiten Teil der Kopenhagen-Trilogie, erzählt sie davon, wie sie mit 17 Jahren auszog, um sich vollkommen auf die Lyrik zu konzentrieren, und von ihren ersten Versuchen, Gedichte veröffentlichen zu lassen. Nicht ganz uneigennützig begann sie ein Verhältnis mit dem 30 Jahre älteren Verleger Viggo F. Møller, den sie später heiratete. Møller erkannte die poetische Kraft Ditlevsen und druckte in der Literaturzeitschrift Wilder Weizen das erste Gedicht von ihr ab, eines in dem die Lyrikerin die Erfahrungen mit ihrer Fehlgeburt verarbeitete. Die Auseinandersetzung mit persönlichen Krisen und seelischen Konflikten sollten den Kern ihres Schreibens ausmachen.

 

Das Leben hielt für Tove Ditlevsen viele davon bereit. Nachdem die erste Ehe schnell vorüber war, scheiterte auch die zweite mit Ebbe Munk, mit dem sie ihr erstes Kind bekam, von dem sie sich nach der Geburt aber zunehmend entfernte. In Abhängigkeit erzählt sie von dieser Entfremdung und wie sie durch eine heimlich vorgenommene Abtreibung, es war bereits ihre zweite, an den Medizinstudenten Carl T. Ryberg geriet und mit ihm in eine schwere Medikamentensucht, die sie fast ihr Leben kostete. Beklemmend und einnehmend beschreibt sie das Gefühl, welches sie durchströmte, wenn Carl ihr die Methadon-Spritze setzte: „Ich bin einzig und allein von dem Gedanken besessen, es noch einmal zu erleben, und Ebbe ist mir vollkommen gleichgültig geworden; wie alle Menschen außer Carl.“

 

Zum Ende der Kopenhagen-Trilogie hat sie diese Sucht vorerst und auch die dritte Ehe mit Carl überwunden. Dennoch musste sie sich in der folgenden Zeit immer wieder Entzügen in psychiatrischen Anstalten unterziehen. Und ebenso – obwohl sie als Autorin erfolgreich und somit wirtschaftlich unabhängig war – begab sie sich zielstrebig in neue Abhängigkeiten, man würde heute sagen, toxische Beziehungen. Auch ihre vierte Ehe mit dem Journalisten Victor Andreasen scheiterte, trieb Tove Ditlevsen gar in eine Psychose. Düster, in fast surrealen Bildern beschreibt sie diese Psychiatrieerfahrungen in ihrem wohl bekanntesten Roman Gesichter, der ab dem 06. Oktober in der M*Halle als deutschsprachige Erstaufführung zu sehen sein wird (Regie: Alice Buddeberg).
Wie auch in ihren anderen autofiktionalen Werken begibt sie sich schonungslos in die Tiefe ihrer seelischen Verletzbarkeit und verwebt die realen tragischen Ereignisse ihres Lebens in eine dichte Erzählung: „Hattest du je ein Verhältnis mit Hanne?“, wird ihr alter Ego Lise Mundus in dem Roman Ehemann Gert fragen. Es handelt sich bei Hanne um Lises Tochter aus voriger Ehe. Und tatsächlich: Erst diesen Sommer wurde ein Medienpreis, der nach Ditlevsens viertem Ehemann Andreasen benannt war, abgeschafft, nachdem Hinweise von sexuellen Übergriffen an ihrer Tochter bekannt wurden.

 

Diese Vermischung von Realität und intensiv gebauter Fiktion macht den speziellen Reiz von Tove Ditlevsens Schreiben aus. In schnörkelloser Sprache scheint sie authentisch von sich selbst zu berichten, verschiebt dabei aber bewusst kleinere wie größere Details, spielt mit der Realität und ihrer eigenen Identität. So entsteht einerseits die Wirkung eines großen Wahrheitsgehalts, anderseits wird diese Wahrheit in den gängigen Traditionen und Mustern eines Romanes verdichtet, wodurch ein interessantes und nicht vollständig durchdringbares Spannungsfeld entsteht. Für diese Form des autofiktionalen Schreibens war Ditlevsen eine Vorreiterin. In jüngster Zeit haben viele Autorinnen und Autoren damit einen hohen Bekanntheitsgrad gewonnen, denkt man an Karl Ove Knausgård, Annie Ernaux, Rachel Cusk, Didier Eribon oder Eduard Louis. So ist auch zu erklären, warum Ditlevsens Werk zurzeit ein internationales Comeback erlebt.

 

In Dänemark war sie schon zu ihren Lebzeiten sehr beliebt. Mit ihren sozialrealistischen Romanen und Novellen, in denen sie unterschiedliche Frauenschicksale thematisierte, sprach sie vielen ihrer Leser:innen aus der Seele. Die kürzlich in deutscher Sprache erschienene Sammlung ihrer Kurzgeschichten Böses Glück gibt davon einen Eindruck. Und auch durch ihre journalistische Tätigkeit prägte sie die frühfeministischen Debatten um die damaligen Rollenbilder der Frau.

 

So nahm ein langer Trauermarsch durch Kopenhagen Abschied, nachdem sich Ditlevsen 1976 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte. Selbst diesen abschließenden Teil ihres Lebens, ihren Suizid, hat sie in ihrem letzten Roman Wilhelms Zimmer vorweggenommen:

 

„Sie wird ihr Haar unter die alte Strickmütze stopfen, die sie während der Therapie in der Klinik angefertigt und nie getragen hat. Sie wird ein Taxi nehmen und sich in eine bestimmte Straße in Hillerød fahren lassen, die, wie sie weiß, ganz in der Nähe des Waldes liegt. Der Rest wird leicht sein. Sie braucht nur zwei Stunden Ruhe, und sie weiß von den Pillen, dass man bleibt, wo man ist, und nicht, wie bei den Barbituraten, im Zustand der Vernebelung umherirrt und Gott weiß was anstellt.“

Philip Klose, Schauspieldramaturg


Tove Ditlevsen © Antljé Uggla

 

Tove Ditlevsen

  • Geboren am 14. November 1917
  • Debut mit Lyriksammlung Mädchensinn
  • Werke: Kindheit, Jugend, Abhängigkeit, Gesichter.
  • Ausgezeichnet mit dem goldenen Lorbeer und dem Søren-Gyldendal-Preis
  • Gestorben durch Suizid 1976

 

 

 


Ursel Allenstein © Sabrina Adeline Nagel

 

Ursel Allenstein

  • Geboren 1978
  • Studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen
  • Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen
  • Vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung

 

 

 

 

Veranstaltungshinweise

 

Gesichter
Deutschsprachige Erstaufführung
von Tove Ditlevsen
Deutsch von Ursel Allenstein
Bühnenfassung von Alice Buddeberg

Premiere 6. Oktober 2023, 19.30 Uhr,  M*Halle

 

Kreativität und Wahnsinn – Podiumsdiskussion
im Anschluss an die Vorstellung Gesichter
15. Oktober 2023, 20.00 Uhr, M*Halle

 

Böses Glück
Lesung und Gespräch mit der Tove Ditlevsen Übersetzerin Ursel Allenstein
SpätiDeluxe meets Literaturtage
22. Oktober 2023 19.30 Uhr, Foyercafé

Zitate aus:
Ditlevsen, Tove: Kindheit, Aufbau Verlag, Berlin 2021
Ditlevsen, Tove: Abhängigkeit, Aufbau Verlag, Berlin 2021
Ditlevsen, Tove: Gesichter, Aufbau Verlag, Berlin 2022
Ditlevsen, Tove: Wilhelms Zimmer, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981

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