„Das Thema zum Thema machen.“
Haben Sie schon mal von dem Verein „Das Boot“ Wismar e.V. gehört? Oder von dem Schulpräventionsprojekt Verrückt? Na und!?
Nach der Konzeption zu unserer Niederdeutschen Erstaufführung von Florian Zellers De Söhn, einem Stück, das vom Leben eines depressiv erkrankten Jugendlichen und dessen Familie erzählt, war für das Ensemble klar: Wir werden uns nicht nur auf einer rein künstlerischen Ebene mit dem Thema Depression und Suizid im Kindes- und Jugendalter auseinandersetzen. Jeder konnte aus seinem Umfeld eine ähnliche Geschichte erzählen.
Auf der Suche nach fachlicher Unterstützung stießen wir auf das Schulpräventionsprogramm mit dem mutmachenden Titel Verrückt? Na und! und kamen in Kontakt mit Daniela Strehlow-Weiß und Anne Kathrin Schütz vom Verein „Das Boot“ Wismar e.V., die Beide das Programm als fachliche Expertinnen unterstützen. Es ist beeindruckend, wie vernetzt all die Hilfsangebote für psychisch erkrankte Menschen sind, wie engagiert und nachhaltig diese Arbeit ist.
Das wollten wir mit Ihnen teilen, denn vielleicht besteht bei Ihnen der Wunsch, nach oder vor dem Besuch einer Vorstellung von De Söhn, durch persönliche oder indirekte Betroffenheit, etwas mehr über Hilfsangebote zu erfahren.
Also zunächst: Was ist „Das Boot“ Wismar e.V.?
Der Verein „Das Boot“ Wismar e.V. zur Förderung seelischer Gesundheit existiert seit über 30 Jahren in Wismar und bietet „Hilfe zur Selbsthilfe“. Über den Verein finden Sie Wohnanlagen und -gruppen, Assistenz und Begleitung im Wohnen, Tagesstätten, eine Begegnungsstätte u.a. für Selbsthilfegruppen, Betreuung von Flüchtlingen, Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien, sowie eine Praxis für Ergotherapie. 2018 erhielt der Verein den Präventionspreis Mecklenburg-Vorpommern des vdek-Die Ersatzkassen in der Kategorie GESUND AUFWACHSEN.
Warum gibt es diesen Verein?
Jeder dritte Mensch ist im Leben von psychischen Krankheiten betroffen. Viele dieser Krankheiten beginnen bereits im Kinder- und Jugendalter. Dennoch gibt es z.B. in Wismar keine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch für Erwachsenen ist die Versorgungslage schwierig. Es kann Monate dauern, einen Termin zu bekommen. Daher macht es sich der Verein „Das Boot“ Wismar e.V zur Aufgabe, Menschen mit psychischen Erkrankungen ab- bzw. aufzufangen und in ihrem Alltag fachlich zu begleiten, zu unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Frau Strehlow-Weiß arbeitet in der Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und Familien. Die Anlaufstelle legt den Fokus ihrer Arbeit insbesondere auf das Wohl der Kinder in den Familien und setzt sich in Zusammenarbeit mit Jugendämtern und Schulen für den Kinderschutz ein. Die Anlaufstelle für Kinder, Jugendliche und Familien unterstützt somit das System Familie und bietet auch altersadäquate Hilfsangebote, die Kinder und Jugendliche informieren und entlasten. Sind beispielsweise Eltern psychisch belastet hat dies auch Auswirkungen auf das Familiensystem. Kinder können durch dieses Hilfsangebot ihrem Alter entsprechend aufgeklärt und entlastet werden. Übrigens existiert bereits ein Patenprojekt namens Patenschaften mit Hand und Herz, bei dem Paten einmal in der Woche Zeit mit den Kindern verbringen, um den Eltern Zeit und Entlastung zu ermöglichen. Und auch Angebote der Familienbildung wie das Cafè MuP oder Kreativ in Familie bieten einen geschützten Rahmen zur Förderung seelischer Gesundheit in Familien. Zudem entsteht gerade das Modellprojekt Lako Kips Fam, zur Hilfe für Kinder aus psychisch oder suchtbelasteten Familien.
Als Anlaufstelle mit mehreren Standorten in Schwerin gibt es übrigens die ANKER Sozialarbeit.
Das Präventionsprogramm Verrückt? Na und!
Ein weiteres Projekt nennt sich Verrückt? Na und! und startete vor über 20 Jahren im Rahmen der Non-Profit-Organisation irrsinnig menschlich e.V. in Leipzig. Seit zwei Jahren ist dieses Schulpräventionsprogramm auch in MV vertreten, dank regionaler Träger wie dem Verein Das Boot e.V. in Wismar. Die Projekttage sind momentan ab Klasse 8, für (Berufs-)Schüler:innen sowie für FSJler:innen gedacht. Den Jugendlichen werden dabei Kenntnisse über psychische Krankheiten, deren Warnsignale, Stressfaktoren und erste Hilfe bei psychischen Erkrankungen, Möglichkeiten zum Selbstschutz, sowie Verknüpfungen zu Hilfsangeboten nähergebracht. Es gibt auch Weiterbildungen für Lehrkräfte und Sozialpädagog:innen. Schulen können das Programm über den Landesverband Sozialpsychiatrie erreichen und die Kosten über das Ministerium anfordern.
Das Besondere an diesem Präventionsprogramm: Es gehen Zweierteams, die sich aus jeweils einem Erfahrungsexperten und einem fachlichen Experten zusammensetzen in Form eines Projekttages an die Schulen. Erfahrungsexperten (oder auch persönliche Experten) sind Menschen, die selbst psychisch erkrankt sind oder waren und durch eine Schulung, z.B. über einen Kurs zum EX-IN Genesungsbegleiter, die eigene Geschichte nutzen, um aufzuklären und auf Augenhöhe helfen zu können.
Was sind die Erfahrungen mit dem Projekt?
Anne Kathrin Schütz arbeitet nun seit einem Jahr als fachliche Expertin bei Verrückt? Na und!. Das Team ist beeindruckt, wie offen die Schüler sind, wie stark das Thema sie berührt. In den Klassen wird schnell deutlich, was aktuell los ist. Mobbing bleibt nach wie vor ein großes, aber oft verdecktes Thema an den Schulen. Im besten Fall nehmen auch die Klassenlehrer:innen an diesen Projekttagen teil und lernen ihre Schüler in dieser Arbeit neu kennen, denn es eröffnen sich andere Möglichkeiten zur Auseinandersetzung als an einem normalen Schultag. Oft sind auch die Schulsozialarbeiter:innen dabei.
Das Projekt ist ein Beitrag dazu, den Schülern Mut zu geben, sich zu Öffnen und psychische Erkrankungen nicht zu verschweigen oder zu verurteilen. Derzeit herrscht ein großer Bedarf an solchen Präventionsprogrammen bei Schülern und Lehrkräften, denn viele fühlen sich gerade nach den letzten Jahren sehr belastet. Häufig werden im Anschluss der Projekttage auch Lehrerfortbildungen gebucht.
In Schwerin gibt es bisher leider noch keine Regionalgruppe von Verrückt? Na und!, da sich kein Träger findet. Die Regionalgruppen von Nordwestmecklenburg und Rostock haben in ihren Kreisen bereits so viel zu tun, dass sie Schwerin nur schwer zusätzlich abdecken könnten. Anfragen müssen daher weit im Voraus gestellt werden.
„Siet drei Maand wier he all nich miehr in de Schaul? Un de hebben sick nich iehrer bi di mellt“
In De Söhn schwänzt Niklas seit Monaten die Schule, ohne dass seine Eltern etwas mitbekommen. So unglaublich das für uns klang, es ist tatsächlich möglich - auch in Deutschland, auch in Schwerin. Während bei fehlenden Grundschülern schnell die Alarmglocken schellen und die Eltern sofort informiert werden, ist Schulverweigerung in der Oberstufe, also bei über 16jährigen, weniger leicht zu durchschauen. Mittlerweile können Krankmeldungen und Entschuldigungen sogar online bei den Schulen eingereicht werden, was das Fälschen wesentlich einfacher macht. Schulverweigerung hat immer einen Grund, z.B. Mobbing in der Schule, zu starker Leistungsdruck oder familiäre Probleme. Ein reines „Zur-Schule-Zwingen“ wird die eigentlichen Ursachen nicht lösen. Hilfe kann hier die Fachstelle Schulvermeidung der AWO bieten. In Wismar kümmern sich zwei Sozialarbeiterinnen unter dem Namen 2. Chance darum, nach Anruf der Schulen, die fehlenden Jugendlichen aufzuwecken und zur Schule zu bringen, wenn die Eltern dazu nicht mehr in der Lage sind. Mit diesem Angebot wird versucht, einem Schulabbruch zuvorzukommen, indem vor allem bildungsferne und sozial schwache Familien in Verbindung mit Elternarbeit, sozialpädagogischer Beratung, Organisation von Förderunterricht und Hausaufgabenbetreuung unterstützt werden. Ist die Ursache der Schulverweigerung durch familiäre Probleme begründet, kann z.B. in Trennungsfällen auch eine Familienberatungsstelle wie in „Das Boot“ Wismar e.V. ein guter Anlaufpunkt sein.
„Ick möt hier rut. Ji koent mi nich hierlaten. Dat hier is de Höll.“
Nach einem Suizidversuch mit einer Rasierklinge wird Niklas in einer Klinik aufgenommen und in die geschlossene Psychiatrie überwiesen, fühlt sich dort jedoch eingesperrt und unwohl. Ist diese Darstellung einer klinischen Behandlung zu düster, vielleicht schon überholt und realitätsfern? Schaden wir damit dem Ruf dieser Behandlungsmethode?
Oft hängt dem Ruf der psychiatrischen Kliniken noch immer eine finstere Geschichte nach. Dabei gibt es seit langem völlig neue Ansätze. Hometreatment beispielsweise. Wie Klinik wahrgenommen wird, ist sehr individuell. Auf manche Patienten wirkt ein Aufenthalt entlastend, sie fühlen sich aufgehoben, ernst genommen. Der Klinikaufenthalt kann die Rettung sein, denn Menschen mit psychischen Erkrankungen schaffen es irgendwann nicht mehr, sich um sich selbst zu kümmern. Eine schwere Depression braucht behutsame Begleitung. Wichtig ist dabei vor allem ein guter Draht zum Psychiater, dafür braucht es manchmal eine längere Suche. So individuell wie psychische Erkrankungen verlaufen, müssen auch die Therapiemöglichkeiten wahrgenommen werden.
„Männigmal hew ick dat Gefäuhl, dat ick nich för dat Läben makt bün. Ick schaff dat einfach nich.“
Was tun, wenn jemand äußert, nicht mehr leben zu wollen? Bei einer Suizidabsicht ist immer Hilfe von außen notwendig. Sie können die 112, eine Klinik oder den Sozialpsychiatrischen Dienst kontaktieren. Weitere Möglichkeiten finden Sie über den Psychiatriewegweiser MV. Vor allem aber: Schweigen Sie nicht! Versuchen Sie, die Situation transparent zu machen, den Betroffenen anzusprechen und appellieren Sie, darüber zu reden und sich Hilfe zu holen. Ihre Aufmerksamkeit „im Davor“ ist wichtig. Nur so können präventive Angebote eingeholt werden, um dem Entschluss zum Suizid zuvorzukommen.
„Ick möt an all dat denken, wat ut em harr warden künnt. Allens is mien Schuld. Ick harr miehr dauhn müsst.“
Wenn es zu spät ist und es zu einem Suizid kam, dann wird häufig die Schuldfrage gestellt. Das eigene Kind zu verlieren, begleitet einen das ganze Leben. Doch die Entscheidung zum Suizid hat die Person selbst für sich getroffen, den Entschluss selbst gefasst, nach schwerer Krankheit. Man muss versuchen, diese Erfahrung in sein Leben zu integrieren und sich nicht von Schuldgefühlen zerfressen zu lassen. Versuchen, gut weiterzuleben und nicht selbst auch ins Loch zu fallen. Der Austausch mit ebenfalls Betroffenen kann dafür eine große Hilfe sein. In Schwerin gibt beispielsweise einige Selbsthilfegruppe, erreichbar über Kiss.
Für jeden, der nun noch mehr zu dem Thema Psychische Erkrankungen und Hilfsangebote wissen möchte, bieten wir zusätzlich zum aufgestellten Infomaterial, nach den Vorstellungen von De Söhn auf rechtzeitige Anfrage auch Nachgespräche mit Expert:innen an. Zudem finden in Wismar im Oktober 2023 die Wochen der seelischen Gesundheit statt, mit vielfältigen Informationsmöglichkeiten und Fachtagungen.
Helfen Sie mit, betroffene Personen über die Hilfsmöglichkeiten zu informieren, Schubladendenken aufzulösen und das Thema zum Thema zu machen!
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